Predigt zu Lukas 6, 36-42 am 4. Sonntag nach Trinitatis

Sich selbst und andere richten, beurteilen und verurteilen: Wie können wir davon frei werden.

36 (Jesus sagt:) »Werdet barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist! 37 Verurteilt nicht andere, dann wird Gott auch euch nicht verurteilen. Sitzt über niemand zu Gericht, dann wird Gott auch über euch nicht zu Gericht sitzen. Verzeiht, dann wird Gott euch verzeihen.    38 Schenkt, dann wird Gott euch schenken; ja, er wird euch so überreich beschenken, dass ihr gar nicht alles fassen könnt. Darum gebraucht anderen gegenüber ein reichliches Maß; denn Gott wird bei euch dasselbe Maß verwenden.« 39 Jesus machte ihnen auch in Bildern deutlich, wovor sie sich hüten sollen; er sagte: »Kein Blinder kann einen Blinden führen, sonst fallen beide in die Grube. 40 Kein Schüler steht über seinem Lehrer. Und wenn er ausgelernt hat, soll er wie sein Lehrer sein. 41 Warum kümmerst du dich um den Splitter im Auge deines Bruders oder deiner Schwester und bemerkst nicht den Balken in deinem eigenen? 42 Wie kannst du zu deinem Bruder oder deiner Schwester sagen: ‚Komm her, Bruder; komm her, Schwester; ich will dir den Splitter aus dem Auge ziehen‘, und merkst gar nicht, dass du selbst einen ganzen Balken im Auge hast? Scheinheilig bist du! Zieh doch erst den Balken aus deinem eigenen Auge, dann kannst du dich um den Splitter in einem anderen Auge kümmern!«

Bewusste oder unbewusste Messlatten, nach denen wir richten, beurteilen und verurteilen

Man hat mir gesagt, dass Frauen bei einer Begegnung ihr Gegenüber erst einmal von oben bis unten scannen und dann entsprechend einordnen. Stimmt das? Aber nicht nur Frauen begutachten ihr Gegenüber, sondern Vergleichen, Beurteilen, Richten, Verurteilen sind allgemein menschliche Verhaltensweisen, ein allgemein menschliches Problem. Das machen wir alle, uns selbst und andere beurteilen, bewusst oder unbewusst. Jeder hat bewusste oder unbewusste Messlatten, nach denen er richtet, beurteilt, verurteilt. Schon bei der ersten Begegnung ordnen wir andere ein, zum Beispiel in: entweder in der sozialen Hierarchie über uns oder unter uns; in gut oder schlecht oder geht so mit vielen Abstufungen; ebenso in interessant oder uninteressant für mich. Messlatten, nach denen wir beurteilen, sind unter anderen Sprache, Verhalten, Kleidung, Glaube, Bildung, Geld, Leistung und Anstand. Dabei sind die Messlatten in der Gesellschaft sehr unterschiedlich, je nach politischer oder religiöser Orientierung, Gesellschaftsschichten,  Generationen, Gruppen, Milieus. Unsere Messlatten sind entstanden durch Erziehung, Schule, Freundeskreis, andere Einflüsse, eigene Entscheidungen und kirchliche Einflüsse. Im öffentlichen Leben scheint es heute weniger Messlatten und Normen zu geben, aber das erscheint nur oberflächlich so. Political correctnis, Mainstream der Meinungen und Verhaltensweisen, staatliche Gesetze und informelle Regeln sind heute oft sehr strikte Beurteilungskriterien.

Warum lieben wir das Richten, Urteilen und die Messlatten so sehr?

Messlatten geben uns Sicherheit. So können wir uns zu einer Gruppe von Gleichgesinnten zugehörig fühlen, uns gleichzeitig von anderen abheben und die Welt um uns herum einordnen, im Gegensatz zur Beliebigkeit, die Freiheit suggeriert und Unsicherheit schafft. Außerdem gibt es uns ein Gefühl von Macht und Überlegenheit. Beim Richten stellen wir uns über den anderen, maßen uns an, ihn beurteilen zu können. Damit üben wir Macht aus über andere. Sie stehen unter uns. Wie im alten Rom können wir über andere den Daumen heben oder senken. Wir sind in dem Fall nicht die Angeklagten, sondern die Richter. Das ist Macht. Wenn dem anderen mein Urteil über ihn wichtig ist, wird er versuchen, sich so zu verhalten, dass ich auch in Zukunft mit ihm zufrieden bin. Mit Richten, Urteilen, schlechtes Gewissen machen kann man Macht ausüben. Zu Recht hat man der Kirche vorgeworfen, über Jahrhunderte die Moral zur Machterhaltung benutzt zu haben. In der Erziehung hat das auch wunderbar geklappt, wenn auch oft mit negativen Folgen. Auch heute sagen uns manche Medien, die Werbung , manche Menschen, die sich moralisch überlegen fühlen, und andere „Richter“, was richtig und falsch ist und beurteilen uns. Das gibt ihnen Macht.

Was ist christlich? Wie sieht die christliche Messlatte aus?

Die Gefahr ist, dass wir nicht richtig hinhören, was Jesus sagt, sondern uns die Bibel zu einer eigenen bürgerlichen, sozialen, liberalen, frommen oder „je nachdem was uns passt“ Messlatte zurechtbiegen. Nehmen wir einige Beispiele:
Nach den 10 Geboten ist Töten Sünde und es galt früher und heute auch als eine der schlimmsten Taten. Falsch über andere reden ist aber auch eine Sünde. Es gilt allerdings weitgehends nur als Kavaliersdelikt.
Man muss sich viel um die Familie kümmern steht so nicht in der Bibel, sondern da steht auch: „Wer Eltern, Ehepartner und  Kinder mehr liebt als mich, der kann nicht zu mir gehören.“
Weit verbreitet ist die Meinung, dass zum Glauben Friede und Harmonie gehört und in gewisser Weise ist das auch richtig. Jesus sagt aber auch, dass das Evangelium und der Glaube an Jesus Konflikte mit sich bringen können.
Der Glaube muss das Leben schön machen, denken viele, aber Jesus macht öfter deutlich, dass der Glaube auch Leid und Verfolgung bringen kann.
Es gilt als ganz normal, wenn man sich um sich selbst und liebe Menschen Sorgen macht. Jesus sagt aber: „Sorget nicht!“
Wir meinen, wenn wir ab und zu Gutes tun, dann ist Gott zufrieden. Jesus sagt, dass wir ihm unser ganzes Leben, Geld, Kraft, Zeit, usw. zur Verfügung stellen und ich dienen sollen.
Wir könnten diese Liste fortsetzen und uns würde immer mehr deutlich werden, dass die Messlatte Jesu ganz anders aussieht als die, die wir vielleicht für christlich halten. Wir passen sie uns an, damit sie zu uns passt, beeinflusst von Erziehung und Tradition, oder angepasst an das, was man heute so denkt, an den Mainstream der Meinungen. Daraus folgt dann auch, dass wir in unserem Leben Prioritäten setzen, die nicht unbedingt dem Evangelium entsprechen. Wir entwickeln vielleicht Schuldgefühle, die gar nichts mit wirklicher Schuld zu tun haben, weil wir so erzogen wurden im Elternhaus, in einer Gemeinde oder unserem sozialen Umfeld. Wir fällen Urteile über uns und andere, die nicht immer etwas mit Jesu Meinung zu tun haben.

Wenn wir einmal den wirklichen Maßstab Jesu nehmen und anlegen, was passiert dann?

Halten wir uns einmal die 10 Gebote, das Doppelgebot, bzw. Dreifachgebot der Liebe in Matthäus 22, das Hohelied der Liebe in 1. Korinther 13, die Bergpredigt Jesu in Matthäus 5 – 7 und die vielen Verheißungen Jesu als Spiegel vor Augen, dann sehen wir, was Gott sich als Lebensweise von uns wünscht. Paulus sagt aber dazu: „Wenn du nach dem Gesetz gerecht werden willst, dann musst du es ganz erfüllen.“

Ich möchte Ihnen eine Geschichte vorlesen, die ich vor einigen Jahren in meinem Kalender gefunden habe und die ich auch im Konfirmandenunterricht verwende,

die Geschichte von den 4000 Punkten. Zunächst den ersten Teil:

Als ein Mann starb, erschien er bei Petrus an der Himmelstür. Er grüßte kurz und ging auf die Tür zu. Aber Petrus stellte sich dazwischen: „Nun mal langsam, so schnell geht das nicht!“ – „Was ist denn? Stimmt was nicht, kann ich hier nicht rein?“ – Petrus: „Das woll´n wir mal sehen.“ – „Gibt es hier denn besondere Bedingungen? Ich bin doch ein anständiger Mensch gewesen!“ – Petrus: „Hat dir denn keiner gesagt, wie man hier hereinkommen kann? Bist du denn keinem Christen begegnet, oder hat dir das kein Pastor gesagt?“ – „Ich kenne viele Christen, auch einen netten Pastor. Aber vom Sterben und vom Himmel haben wir nie gesprochen..“ –

Petrus: „Wenn dir das bisher keiner gesagt hat, dann sage ich es dir: Hier muss man 4000 Punkte haben.“ „4000 Punkte? Wie ist denn das gemeint? Davon weiß ich ja gar nichts!“ – Petrus: „Was hast du denn vorzuweisen? Zähl mal auf!“ –„Also, ich war ziemlich oft in der Kirche.“ – Petrus: „ein Punkt.“ – „Als meine Frau schwer krank war, habe ich sie Tag und Nacht gepflegt.“ – „Ein Punkt!“ – Ich hab´ viel für Hilfsaktionen gespendet.“ „Auch ein Punkt.“ Als dem Mann nichts mehr einfiel, sagte Petrus: „Ich kann ja mal das dicke Buch holen, in dem wir alles mitgeschrieben haben. Für dich ist da auch eine Seite. Aber eins sage ich dir im Voraus. Für jeden gibt es da zwei Spalten: eine für die Pluspunkte und eine für die Minuspunkte.“ Da wurden ihm die Knie weich und er sagte ganz kleinlaut: Wer kann denn dann hier hereinkommen?“

Predigt zu Lukas 6, 36-42 Himmel
Foto: Martina Heins
Ja, wer kann denn dann in den Himmel kommen?

Wenn ich das sehe, werde ich erst einmal klein und bescheiden vor Gott, denn ich muss feststellen: Ich habe keine Chance. Ich werde aber auch bescheiden gegenüber meinen Mitmenschen, denn wenn ich ehrlich vor mir selbst bin, habe ich keinen Grund zum Verurteilen. Es tut auch weh, sich selbst so zu erkennen. Deshalb reagieren wir so, dass wir es irgendwie hinbekommen wollen, trotzdem gut da zustehen, indem wir die Messlatte zurechtbiegen, dass es mit uns passt, oder dass wir von uns ablenken und den Finger auf andere richten. Das tut dann  einfach gut.

Jesus sagt:Richtet nicht!

Kann ein Blinder einen Blinden führen? Warum siehst du den Splitter im Auge des anderen und siehst nicht den Balken in deinem eigenen Auge?“ Er nimmt uns damit das Instrument, uns über andere zu stellen und Macht auszuüben: Keiner steht über den anderen und keiner hat das Recht, auf diese Weise Macht über andere auszuüben. Das ist der Grund, warum die Pharisäer so sauer waren und Jesus töten wollten. Er nahm ihnen ihre moralische Macht. Wenn du nicht mehr erlaubst, dass andere dir ein schlechtes Gewissen machen können, nimmst du ihnen die Macht über dir. Darüber können die Anderen richtig ärgerlich werden. Darum hat die Kirche auch so heftig auf die Reformation reagiert. Sie erlitt einen Machtverlust.

Jesus sagt: Richtet nicht, sondern seid barmherzig, gebt, schenkt ( V 36-38 ).

Das ist der neue Maßstab, die neue Messlatte, nach der Gott uns beurteilt: So wie wir handeln, wird er mit uns umgehen. Barmherzig sein heißt nicht, dass alles egal, halb so schlimm ist, sondern: trotzdem liebe ich dich, gehörst du zu mir, bist du für mich wertvoll und wichtig. Jesus verlangt nicht, dass ich etwas erfülle, was ich sowieso nicht schaffe, verurteilt mich nicht, ordnet mich nicht ein auf einer Skala in guter oder weniger guter Christ, mehr oder weniger wertvoll, sondern er lädt mich ein, ihm mein Leben anzuvertrauen, seine Barmherzigkeit zu erfahren.

Die Geschichte von den 4000 Punkten geht weiter:

Petrus: Das hat unseren Vater auch bewegt, deshalb hat er mit seinem Sohn überlegt, was zu tun wäre. Von den 4000 Punkten ist er aber nicht abgegangen. Da ging der Sohn auf die Erde. Er hält nun jedem seine Hände hin und bietet ihm an: „Gib mir deine Minuspunkte. Ich nehme sie mit ans Kreuz. Da habe ich dafür gebüßt.“ Wer nun zum Kreuz kommt und sich Jesus ausliefert, der bekommt 4000 Punkte auf einmal geschenkt. Und wenn er dann hierher an die Himmelstür kommt und Jesus Christus im Herzen hat und sich zu ihm bekennt, steht ihm die Tür weit offen. – Eins muss ich noch ergänzen: Das kann man nur auf der Erde klären.“

Was für ein Geschenk!

Gott selbst löst das Problem! Im Tausch gegen unser irdisches vergängliches Leben schenkt er uns durch Jesus ewiges Leben. Jesus ist die offene Tür zum Himmel.

Ist denn die andere Messlatte der Bibel überflüssig? Jesus sagt: kein Pünktchen vom Gesetz wird aufgehoben. Es ist alles gültig und richtig. Und Luther merkt zu den Anforderungen Gottes an: Wir sollen sie uns als Spiegel vorhalten, um in die Arme Christi getrieben zu werden, der Barmherzigkeit und Gnade Gottes, die uns in Jesus begegnet. Es soll uns antreiben, zum Kreuz Christi zu kommen. Jetzt wissen Sie, wie man in den Himmel kommt und können nicht sagen, das hat mir niemand gesagt. Klären Sie es, solange Sie noch auf der Erde sind.

 So geht Gott durch Jesus mit uns um, nicht verurteilend, sondern barmherzig. So sollen wir im Lichte Gottes mit uns selbst umgehen. So sollen wir mit anderen umgehen. Jesus sagt: Vertraue dich mir an, damit wir gemeinsam Schritte machen, wie dein Leben sich verändern kann?

Was ist das für eine Befreiung,

wenn wir aufhören, uns und andere zu richten, einzuordnen, zu verurteilen; wenn wir unsere Sicherheit und Selbstwertgefühl nicht durch Messlatten erreichen, sondern durch die Barmherzigkeit und Liebe, die Jesus uns gibt; wenn wir es nicht mehr nötig haben, größer, mächtiger und besser als andere zu sein; wenn wir aufhören können, uns selbst und andere zu richten, zu beurteilen und zu verurteilen. Erahnen Sie, wie befreiend sich das auswirkt, auf Ihr eigenes Leben und auf das Miteinander in der Gemeinde.

Predigt zu Lukas 6, 36-42
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